BAG schafft Rechtssicherheit – Praxis­hinweis für Arbeitgeber

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Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seinem Urteil vom 05.12.2023 (9 AZR 230/22) entschieden, dass ein Arbeitnehmer sich bei sogenannten Doppelarbeitsverhältnissen bereits genommenen Urlaub beim neuen Arbeitgeber anrechnen lassen muss, wenn ein Gericht im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses die Unwirksamkeit einer Kündigung des alten Arbeitgebers feststellt. Dies gelte nach Ansicht des BAG unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer die Pflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen hätte gleichzeitig ­erfüllen können.

Sachverhalt

Die Klägerin war als Fleischereifachverkäuferin bei dem Beklagten (alter Arbeitgeber) beschäftigt. Laut Arbeitsvertrag hatte die Klägerin Anspruch auf 30 Tage Erholungsurlaub. Mit Schreiben vom 23.12.2019 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fristlos. Gegen die Kündigung reichte die Klägerin Kündigungsschutzklage ein.

Während des laufenden Kündigungsrechtsstreits im Jahr 2020 begann die Klägerin eine neue Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber (neuer Arbeitgeber) und nahm in diesem Arbeitsverhältnis im Jahr 2020 an 25 Arbeits­tagen sowie von Januar bis Mai 2021 an zehn Arbeitstagen ­Urlaub. Das Gericht stellte sodann im Rahmen des Kündigungsrechtsstreits mit dem alten Arbeitgeber fest, dass die ausgesprochene fristlose Kündigung des Beklagten aus dem Jahr 2019 unwirksam war und das Arbeits­verhältnis der Parteien erst durch eine im Mai 2021 ausgesprochene, weitere fristlose Kündigung wirksam beendet worden ist.

Die Klägerin begehrte sodann gerichtlich die Abgeltung des vertraglichen Mehrurlaubs aus den Jahren 2020 und 2021 von ihrem alten Arbeitgeber. Der Arbeitsvertrag der Klägerin mit dem alten Arbeitgeber beinhaltete keine vertragliche Regelung zur Anrechnung von Urlaub.

BAG rechnet Urlaub beim alten Arbeitgeber an

Das BAG stellte zunächst in seiner Entscheidung klar, dass es für das Entstehen des Urlaubsanspruchs ohne Bedeutung ist, dass der Arbeitnehmer in einem Kündigungsschutzprozess den Fortbestand seines gekündigten Arbeitsverhältnisses geltend macht und währenddessen ein anderes Arbeitsverhältnis eingeht (sogenanntes Doppel­arbeitsverhältnis). Das BAG weist darauf hin, dass der gesetzliche Urlaubsanspruch nicht unter der Bedingung stehe, dass der Arbeitnehmer im Bezugszeitraum eine Arbeitsleistung erbracht habe, sondern setze nach §§ 1, 3 Abs. 1 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) grundsätzlich allein das Bestehen des Arbeitsverhältnisses voraus. Wird der Kündigungsschutzklage stattgegeben, bestünden demnach zunächst in beiden Arbeitsverhältnissen Urlaubsansprüche, obwohl der Arbeitnehmer die Pflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen nicht gleichzeitig hätte erfüllen können, so das BAG.

Weiter führt der 9. Senat in seiner Entscheidung aus, dass der Klägerin im Ergebnis – jedenfalls für das Jahr 2020 – dennoch kein Urlaubsabgeltungsanspruch gegen den ­alten Arbeitgeber zustand, da der durch den ­neuen Arbeitgeber gewährte Urlaub anzurechnen und der ­Anspruch gegen den alten Arbeitgeber daher erloschen sei.

Das BAG entschied, dass der vom neuen Arbeitgeber gewährte Urlaub in entsprechender Anwendung des § 11 Nr. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) und § 615 Satz 2 BGB auf den Urlaubsabgeltungsanspruch gegen den alten Arbeitgeber angerechnet werden müsse. Da das BUrlG zur Konstellation der Doppelarbeitsverhältnisse keine Aussage treffe, sei eine analoge Anwendung der Normen geboten. Denn § 6 Abs. 1 BUrlG regele den Urlaubsanspruch nur für den Fall, dass der Arbeitnehmer während des Urlaubsjahres den Arbeitgeber wechselt, und erfasse damit eine Konstellation aufeinanderfolgender Arbeitsverhältnisse. Vorliegend ging es aber um zwei gleichzeitig bestehende Arbeitsverhältnisse, die von dem Regelungsbereich des § 6 BUrlG nicht erfasst seien.

Zur Begründung der Analogie führt das BAG den aus § 11 Nr. 1 KSchG und § 615 Satz 2 BGB abzuleitenden Rechtsgedanken heran. Diese beiden Vorschriften regeln zwar eigentlich Fälle des Annahmeverzuges für Entgelt­ansprüche, verfolgen jedoch das Ziel, dass der Arbeit­nehmer bei seinem Obsiegen im Kündigungsschutzrechtsstreit wirtschaftlich so gestellt wird, als sei das Arbeitsverhältnis ohne Rechtsstreit durchgeführt worden. Der Arbeit­nehmer soll (finanziell) weder besser noch schlechter gestellt sein. Dieser Rechtsgedanke findet nach der Rechtsprechung des BAG auch auf Urlaubsansprüche Anwendung. Kann der Arbeitnehmer die Arbeitspflichten aus beiden ­Arbeitsverhältnissen nicht kumulativ erfüllen, soll dem Arbeitnehmer ein Urlaubsanspruch in doppelter Höhe nicht zuteilwerden, sondern er ist nur so zu stellen, als sei das Arbeitsverhältnis ohne Unterbrechung durchgeführt worden. Was für den Arbeitsverdienst gilt, ist demnach auf den Urlaubsabgeltungsanspruch – analog – zu übertragen. Eine Anrechnung von Urlaubsansprüchen sei daher nach Auffassung des BAG geboten, um die – auch nach den Wertungen des Bundesurlaubsgesetzes nicht vorgesehene –Verdopplung von Urlaubsansprüchen zu vermeiden.

Für die Anrechnung von Urlaubsansprüchen sei allerdings Voraussetzung, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen dem kündigungsbedingten – rein tatsächlichen – Frei­werden des Arbeitnehmers von der Verpflichtung, seine Arbeitspflicht in dem früheren Arbeitsverhältnis zu erfüllen, und dem Erwerb von Urlaubsansprüchen in dem neuen Arbeitsverhältnis bestehe. Dies sei nach Ansicht des 9. Senats regelmäßig dann anzunehmen, wenn sowohl das frühere Arbeitsverhältnis als auch das neue Arbeitsverhältnis als Vollzeitarbeitsverhältnis ausgestaltet ist, so dass dem Arbeitnehmer die kumulative Erfüllung der Arbeitspflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen faktisch nicht möglich ist. Eine Anrechnung erfolge dann in analoger Anwendung von § 11 Nr. 1 KSchG und § 615 Satz 2 BGB sowohl für den gesetzlichen als auch für den vertraglichen Mehrurlaub. Etwas anderes könne nur gelten, soweit die Parteien den Ausschluss der Anrechnung vertraglich vereinbart haben, da es sich bei den Vorschriften um dispositives Gesetzesrecht handele.

Weiterhin stellt das BAG klar, dass die Anrechnung stets nur auf das Kalenderjahr bezogen zu erfolgen hat. Damit wird dem Regelungskonzept des Bundesurlaubsgesetzes Rechnung getragen, wonach der Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub kalenderjahresbezogen ist. Zudem ­würde durch die kalenderjahresbezogene Anrechnung ­gewährleistet, dass der Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr ­tatsächlich seinen gesetzlichen Mindesturlaub erhält, so das BAG.

Wie ist das Urteil einzuordnen? – Praxishinweis

Der 9. Senat knüpft an die Rechtsprechung des BAG vom 21.02.2012 (9 AZR 487/10) an. Bereits damals hatte das BAG entschieden, dass eine Anrechnung von Urlaubsansprüchen bei Doppelarbeitsverhältnissen zu erfolgen hat.

Interessant ist zudem, dass im Vergleich zum Unionsrecht der Schutz des nationalen Rechts – hier des Bundesurlaubsgesetzes – zunächst weiter reicht. Während in Konstella­tionen eines Doppelarbeitsverhältnisses in beiden Arbeitsverhältnissen grundsätzlich ein Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub entsteht, steht dem Arbeitnehmer nach Unionsrecht ein Urlaubsanspruch gegen den alten Arbeit­geber nicht zu (vgl. EuGH, Urteil vom 25.06.2020 – C-762/18 und C-37/19 – Varhoven kasatsionen sad na ­Republika ­Bulgaria, Rn. 79 f.). Letztendlich wirkt sich dieser höhere Schutz jedoch nicht aus, wenn, wie durch das BAG entschieden, eine Anrechnung des Urlaubsanspruchs zu ­erfolgen hat.

Das Urteil des BAG ist begrüßenswert, da nur so eine nicht gerechtfertigte Besserstellung des Arbeitnehmers gewährleistet werden kann und damit den Wertungen des Bundesurlaubsgesetzes ausreichend Rechnung getragen wird.

Arbeitgeber sollten daher im Rahmen von Kündigungsstreitigkeiten die Möglichkeit der Anrechnung von Urlaubs­ansprüchen stets im Blick behalten. Es wird daher empfohlen, von dem Arbeitnehmer Auskunft über die Anzahl der bereits genommenen Urlaubstage bei dem neuen Arbeit­geber zu verlangen, um so eine Anrechnungsmöglichkeit prüfen zu können.

 

Autor


Vanessa Talayman Taylor Wessing, Frankfurt am Main Rechtsanwältin, Associate v.talayman@taylorwessing.com www.taylorwessing.com

Vanessa Talayman
Taylor Wessing, Frankfurt am Main
Rechtsanwältin, Associate

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