Im Blickpunkt: Neueste Erkenntnisse einer Auswertung von Schiedssprüchen der ICC

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Das Schiedsgerichtsverfahren hat sich als probates Mittel zur Beilegung von Streitfällen aus grenzüberschreitenden Verträgen durchgesetzt. Das liegt vor allem an den Vorteilen, die dieses Streitbeilegungsverfahren gegenüber internationalen Gerichtsverfahren mit sich bringt. Die Vorzüge bringen allerdings auch ihre Hürden mit sich. Betrachtet man den Aspekt der Schadensermittlung im Schiedsgerichtsverfahren, so kommt man schnell zu der Erkenntnis, dass die Unterschiede zwischen den Parteien hinsichtlich der Schadenshöhe in komplexen Streitfällen vor Schiedsgerichten kaum größer sein könnten. Obwohl die Parteien dabei auf qualifizierte und erfahrene Sachverständige zurückgreifen und die verwendeten Bewertungsmethoden der Sachverständigen beider Streitparteien die gleichen sind, ist die Diskrepanz des ermittelten Schadens zum Teil so groß, dass der Sachverständige des Klägers den Schaden im Millionen-Bereich beziffert, während der Sachverständige der Beklagtenseite zu der Feststellung kommt, dass in diesem Fall überhaupt kein Schaden vorliegt (hier).
Der Grund für solch erhebliche Abweichungen wurde jüngst in der Studie der Queen Mary University of London (QMUL-Studie) untersucht, die in Zusammenarbeit mit PwC UK und dem ICC International Court of Arbitration (ICC) erstellt wurde. Für die Erhebung der Studie erhielt die Queen Mary University Zugang zu insgesamt 700 vertraulichen Schiedssprüchen, die zwischen den Jahren 2014 und 2018 vom internationalen Schiedsgerichtshof ICC in Paris und New York verwaltet wurden. In die Studie wurden letztlich 180 Schiedssprüche einbezogen, die in englischer Sprache verfasst waren und in denen einer Schadensersatzforderung dem Grunde nach entsprochen wurde.

Lichtjahre entfernt – die Kluft zwischen den Streitparteien bei der Schadenshöhe
Sowohl in der PwC-Studie aus dem Jahr 2015/2017, der eine Auswertung von durch das International Centre for Settlement of Investment Disputes (ICSID) administrierten Schiedssprüchen zugrunde lag, als auch bei der QMUL-Studie haben die Untersuchungen zu dem Ergebnis geführt, dass die Beklagten den Schadensersatz im Durchschnitt auf nur 12% des von den Klägern geforderten Schadensersatzes beziffern.
Bemerkenswert ist, dass die Studie zu dem Ergebnis kommt, dass es dabei keinen Unterschied macht, ob ein Sachverständiger mit der Schadensermittlung beauftragt wurde oder nicht. Das Ergebnis liegt in beiden Szenarien bei 12%.
Bereits in den vergangenen Jahren haben Studienergebnisse gezeigt, dass vor allem unterschiedliche Rechtsauffassungen, Interpretationen und Fragestellungen der Parteien und auch der Rechtsanwälte in Bezug auf den Sachverhalt zu solch enormen Diskrepanzen bei der Schadenshöhe führen.

Waffengleichheit zahlt sich aus – der Einfluss von Sachverständigen im Verfahren
Die Untersuchungen der QMUL-Studie zeigen weiterhin auf, dass der Einsatz von Sachverständigen bei Schadensersatzansprüchen von über 10 Mio. USD üblich ist. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Entscheidung, ob der Beklagte einen Sachverständigen beauftragt, weitestgehend in Abhängigkeit vom Vorgehen der Klägerseite getroffen wird. Beauftragt der Kläger einen Sachverständigen zur Schadensermittlung, dann kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Beklagte ebenfalls einen Sachverständigen zur Ermittlung der Schadenshöhe hinzuziehen wird. Die QMUL-Studie zeigt auch, dass der Beklagte besser abschnitt, wenn er ebenfalls einen Sachverständigen mit der Schadensermittlung beauftragt hatte:

  • Im Durchschnitt folgte das Schiedsgericht in 69% der Schiedssprüche dem geforderten Betrag, wenn ein Sachverständiger auf Klägerseite, aber keiner auf Beklagtenseite mit der Angelegenheit der Schadensermittlung betraut war.
  • Demgegenüber haben die Schiedsgerichte nur in durchschnittlich 41% der Fälle dem geltend gemachten Anspruch stattgegeben, wenn sowohl auf Kläger- als auch auf Beklagtenseite ein Sachverständiger beauftragt wurde.

Im Fall P&ID gegen Nigeria entsprach das Schiedsgericht der vom Kläger bezifferten Forderung von rund 9,6 Mrd. USD auf Basis einer versäumten vertraglichen Verpflichtung im Wesentlichen in vollem Umfang. Der Beklagte hatte zwar ebenfalls einen Sachverständigen mit der Schadensermittlung beauftragt, allerdings ging dieser auf zahlreiche vorgebrachte Beweise und entsprechende Berechnungen der Schadenssumme des Klägers nicht ein. Der Sachverständige des Beklagten ging zudem bei der Schadensermittlung von falschen Annahmen über die zugrundeliegenden Zahlen aus. Insbesondere wurde die Schadensbewertung nicht unter dem entscheidenden Aspekt vorgenommen, dass die nigerianische Regierung ihrer vertraglichen Verpflichtung nicht nachgekommen war.
Dieser Umstand macht deutlich, dass es enorm wichtig ist, dass Sachverständige bei der Schadensermittlung in enger Abstimmung mit den Rechtsanwälten zusammenarbeiten, um relevante Annahmen und auch Rechtsauffassungen in Bezug auf den Sachverhalt gemeinsam zu erörtern.

Obsiegen der Höhe nach – für den Kläger im Handelsschiedsverfahren erfolgreicher als im Investitionsschiedsverfahren
Die Schiedssprüche, die der QMUL-Studie zugrunde liegen, zeigen auf, dass die Schiedsgerichte den in den Klageanträgen bezifferten Schadensersatzforderungen in 53% der Fälle stattgegeben haben. Dies ist eine Steigerung im Vergleich zur PwC-Studie 2015/2017, denn dort entsprachen die Schiedsgerichte den Schadensersatzforderungen aus Investitionsstreitigkeiten zu nur 36%.
Einer der Gründe dieser Diskrepanz liegt vor allem in der Entscheidung darüber, welche Bewertungsmethode verwendet wird. Der Anstieg der zugesprochenen Schadensersatzforderungen ist auf die Bewertungsmethode historischer Anschaffungs- und Herstellungskosten zurückzuführen, in der die bereits realisierten Kosten oder vergangene Zahlungsströme zur Ermittlung der Schadenshöhe herangezogen werden. Diese Bewertungsmethode ist der QMUL-Studie zufolge am häufigsten zur Anwendung gekommen. Darüber hinaus hat aber auch der Einsatz kapitalwertorientierter Verfahren laut QMUL-Studie zu einem höheren Zuspruch seitens der Schiedsgerichte geführt (44% des vom Kläger ermittelten Schadens), als dies die PwC-Studie 2015/2017 ermittelt hatte (36%).
Ein weiterer Grund für den Unterschied liegt möglicherweise darin, dass bei Investitionsstreitigkeiten im Gegensatz zu Handelsstreitigkeiten die Schadensermittlung häufig auf Basis einer Unternehmensbewertung erfolgt. Dieser Umstand führt dazu, dass die Schiedsgerichte sich mit komplexeren Fragestellungen auseinandersetzen müssen. Demnach mögen Schiedsgerichte bei der Zuerkennung des vollen geforderten Betrags mit entsprechender Zurückhaltung reagieren.
Als mögliche dritte Erklärung für den höheren Zuspruch des Streitwerts kann eine größere Einigkeit dienen, die bei Handelsstreitigkeiten zwischen den Schiedsgerichten und den Klägern hinsichtlich der Bewertungsmethodik bei der Schadensermittlung besteht. Im Rahmen der QMUL-Studie wurde festgestellt, dass bei Auseinandersetzungen in Investitionsstreitigkeiten die Schiedsgerichte eher geneigt waren, ein anderes Verfahren heranzuziehen als die vom Kläger verwendete Methode zur Schadensermittlung.

Aus Mangel an Beweisen – die Kritik der Schiedsgerichte
Trotz des tendenziell höheren Zuspruchs der eingereichten Klagen in Handelsstreitigkeiten bemängelten die Schiedsgerichte dennoch einzelne Punkte im Vorgehen bei der Schadensermittlung. Besonders häufig kritisierten die Schiedsgerichte den Mangel an Beweisen oder eine unzureichende Substantiierung des Schadens, gefolgt von falschen oder unzureichenden Annahmen, die auf rein spekulativer Basis beruhen:

  • Von insgesamt 180 Schiedssprüchen, die der QMUL-Studie zugrunde lagen, fielen 66 Fälle unter den Kritikpunkt der unzureichenden Beweislage.
  • In 35 Fällen bemängelte das Schiedsgericht die Schadensermittlung, die auf Basis falscher oder unzureichender Annahmen getroffen wurde.
  • In 26 Fällen rückte das Vorgehen spekulativer Mutmaßungen in den Fokus der Kritik.

Dass eben diese Kritikpunkte dem Grunde nach an den Pranger gestellt wurden, ist vielleicht nicht überraschend, interessant ist jedoch die Häufigkeit der vorgebrachten Kritikpunkte seitens der Schiedsgerichte: In mehr als der Hälfte der untersuchten Fälle bemängelte das Schiedsgericht das Vorgehen bei der Schadensermittlung.

Fazit – mehr Transparenz durch aktivere Rolle des Schiedsgerichts in der Schadensermittlung

Die Ergebnisse der QMUL-Studie bieten erstmals Einblicke in die vertraulichen Schiedssprüche der ICC. Sowohl den Schiedsgerichten, Parteien und ihren Rechtsanwälten als auch den Sachverständigen bietet sich die Möglichkeit, die Ergebnisse als Orientierungshilfe bei der Schadensermittlung bei schiedsgerichtlichen Auseinandersetzungen zu nutzen.
Die zuvor genannten Kritikpunkte, die seitens der Schiedsgerichte im Zusammenhang mit der Schadensermittlung genannt wurden, können von großem Nutzen sein, wenn es um die Festlegung von Annahmen geht, die der Schadensermittlung des Sachverhalts zugrunde zu legen sind. Dies kann dazu beitragen, dass die Schadensschätzung nicht auf Basis spekulativer und nicht hinreichender Anhaltspunkte erfolgt.
Um in Zukunft die Kluft zwischen den Streitparteien zu verringern, sind verschiedene Maßnahmen denkbar. Über eine gemeinsame Diskussion der Sachverständigen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden ihrer Gutachten hinaus bietet es sich auch an, die Sachverständigen im Rahmen der mündlichen Schiedsverhandlung gemeinsam zu befragen, um insbesondere die Diskussion der Unterschiede zu vertiefen und die dahinter liegenden Annahmen und Gründe zu untersuchen. Schließlich kann auch eine stärkere Einbindung seitens der Schiedsgerichte in die Schadensermittlung ein probates Mittel sein, in dem das Schiedsgericht den Sachverständigen auf Basis der zuvor beschriebenen Maßnahmen Vorgaben in Bezug auf wesentliche Prämissen und Annahmen der Schadensermittlung auferlegt.

gulnara.kalmbach@pwc.com

imane.el.karouia-tizi@pwc.com

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